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Staatsanwalt will Berufsverbot für Internet-Bürgerrechtler

Pressemeldung

vom 14./15. Oktober 2003

Hintergrundinformationen, Quellen und mehr folgen unten

Pressekontakt:
presse@odem.org, (07 11) 50 70 825 (Alvar Freude)

Link für Ihre Leser:
http://odem.org/aktuelles/staatsanwalt.de.html

Zum Kopieren: Text der Meldung ohne harte Umbrüche


  Chinesische Verhältnisse in Deutschland?
  Staatsanwalt will Berufsverbot für Internet-Bürgerrechtler

  Eine satirische Aufarbeitung der Bestrebungen der
  Behörden in Nordrhein-Westfalen, ausländische
  Internet-Inhalte in Deutschland zu sperren, soll
  dem Internet-Bürgerrechtler Alvar Freude zum
  Verhängnis werden: Die Staatsanwaltschaft
  Stuttgart ermittelt und droht in einem Schreiben
  an Freudes Anwalt mit Freiheitsstrafe und
  Berufsverbot.

  Freude betreibt unter ODEM.org ein
  Internet-Portal, auf dem er über Internet-Zensur
  und -Filtermaßnahmen informiert. Dort dokumentiert
  und kritisiert er einen Pilotversuch der
  Bezirksregierung Düsseldorf zur Sperrung
  ausländischer Internet-Seiten.[1] Über 18000
  Unterzeichner haben sich in einer
  Unterschriftenliste gegen die Sperrungen
  ausgesprochen. Zu den Erstunterzeichnern gehören
  die "Reporter ohne Grenzen", der
  SPD-Bundestagsabgeordnete und Medienexperte Jörg
  Tauss und Grietje Bettin, medien- und
  bildungspolitische Sprecherin der
  Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen.[2]


  Strafanzeige der Düsseldorfer Bezirksregierung

  Überrascht war Freude, als er einen Brief von der
  Staatsanwaltschaft Stuttgart in den Händen hielt:
  "Gewaltdarstellung im Internet" wirft sie ihm vor,
  da er auf der Website "FreedomFone"
  (http://w2p.odem.org/) anbietet, beliebige
  Internet-Inhalte am Telefon vorzulesen.[3] Das
  2001 entstandene Projekt ist eine Satire auf die
  geplanten Filter-Maßnahmen der Düsseldorfer
  Bezirksregierung, die nun Strafanzeige bei der
  Staatsanwaltschaft Stuttgart gestellt hat.
  Begründung: Der Dienst sei dazu da, Zugang zu
  illegalen Inhalten zu vermitteln. In einer
  Stellungnahme schreibt Freudes Anwalt Thomas
  Stadler: "Das Angebot, man würde den Nutzern
  weggefilterte Internetinhalte dann eben am Telefon
  vorlesen, ist derart absurd, dass einem
  durchschnittlich aufmerksamen Internetnutzer die
  Satire förmlich ins Gesicht springt."[4]


  Auch die Dokumentation der Sperrungsverfügungen
  der Bezirksregierung Düsseldorf bei ODEM.org[5]
  ist Stein des Anstoßes: Der Geschäftsführer einer
  Düsseldorfer IT-Dienstleistungsfirma erstattete
  Anzeige und behauptet, Freude würde die
  Sperrverfügungen technisch umgehen und
  volksverhetzende Inhalte verbreiten. "Dies ist
  offensichtlich falsch, da mit Redirects technisch 
  gar nicht möglich, und der Versuch mich in die
  rechtsextreme Ecke zu drängen ist eine
  Unverschämtheit", erläutert der Beschuldigte. "Es
  ist verwunderlich, dass die Staatsanwaltschaft und
  das Landeskriminalamt dies nach eineinhalbjähriger
  Ermittlungsarbeit nicht selbst herausgefunden
  haben."

  Bleibt der Vorwurf, die in der Dokumentation
  enthaltene Nennung der Seiten, die die
  Bezirksregierung sperren lassen möchte, sei
  strafbar. Freude zeigt sich aber zuversichtlich,
  dass das Verfahren eingestellt wird. Sein Anwalt
  Thomas Stadler erklärt: "Nach der gesetzlichen
  Regelung ist der Tatbestand der Volksverhetzung
  nicht erfüllt, wenn die Handlung der
  staatsbürgerlichen Aufklärung oder der
  Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens
  dient. Dies ist bei ODEM.org eindeutig der
  Fall."[6]


  Ähnlicher Fall bereits 2000

  Bereits 2000 ermittelte die Berliner
  Staatsanwaltschaft in einem ähnlichen Fall gegen
  den Journalisten Burkhard Schröder. Dieser
  verweist in seinem "Informationsportal
  Rechtsextremismus & Antisemitismus"[7] sowohl auf
  antifaschistische als auch auf rechtsradikale
  Internet-Seiten. Nach einer Untersuchung stellte
  die Staatsanwaltschaft Berlin das Verfahren 2001
  ein: eine strafbare Handlung konnte nicht
  festgestellt werden.[8] Ein Berufsverbot wurde
  Schröder damals aber nicht in Aussicht gestellt.


   93 Zeilen à 50 Zeichen (inkl. Überschrift)
  430 Wörter


Veröffentlichung honorarfrei
Belegexemplar oder Hinweis auf Abdruck erbeten


Anmerkungen
  1. vgl. http://odem.org/informationsfreiheit/
  2. siehe http://odem.org/informationsfreiheit/erklaerung.html
  3. Vormals TeleTrust.info, aufgrund Namensgleichheit mit einem Verein erfolgte im Herbst 2003 die Umbenennung in FreedomFone; Alte Version im Web-Archiv: http://web.archive.org/web/20011222043805/http://www.teletrust.info/
  4. Die Stellungnahme Online: http://odem.org/aktuelles/stellungnahme.de.html
  5. Eine aktuelle Dokumentation der zu sperrenden Websites findet sich unter http://odem.org/informationsfreiheit/o-ton--wieviel-und-was.html
  6. vgl. §86 Strafgesetzbuch, Absatz 3. http://lawww.de/Library/stgb/86.htm
  7. http://www.burks.de/nazis.html
  8. vgl. http://www.heise.de/newsticker/data/cgl-10.12.01-001/

 

Hintergrundinformationen

Der Staatsanwalt und Berufsverbot

Im Schreiben der Stuttgarter Staatsanwaltschaft heisst es wortwörtlich:

»Ich erlaube mir bereits jetzt darauf hinzuweisen, dass angesichts der Massierung der strafbaren Seiten aus verschiedenen Bereichen über die angestrebte, hier übliche Freiheitsstrafe hinaus die Beantragung der Einziehung der Tatmittel sowie ein Berufsverbot im Raume stehen.«

Die Sperrungsverfügungen der Bezirksregierung Düsseldorf

Die Bezirksregierung Düsseldorf ist nach dem Mediendienstestaatsvertrag in Nordrhein-Westfalen für die Medienaufsicht zuständig. Sie möchte ihre Kontrolle auch auf ausländische Internet-Inhalte ausweiten: Die Behörde und allen voran Regierungspräsident Jürgen Büssow planen, tausende ausländische Internet-Seiten zu "sperren" bzw. in Deutschland auszublenden. Die Seiten bleiben weiterhin im Netz, nur soll es Internet-Nutzern unmöglich gemacht werden, sich diese anzuschauen. Es handelt sich also nicht um eine Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern um die Einschränkung der Informations- bzw. Rezipientenfreiheit - also dem Recht, sich aus allen öffentlichen Quellen ungehindert unterrichten zu dürfen.

Dieses Vorhaben ist technisch, juristisch und gesellschaftspolitisch sehr umstritten. Eine umfassende Diskussion fand in der Öffentlichkeit, abseits der Internet-Szene, bisher nicht statt.

Dabei sind die ersten beiden zu sperrenden Webseiten - wie die Bezirksregierung selbst sagt - nur ein Versuchsballon, um die politischen, rechtlichen und technischen Grundlagen für eine weitergehende Internet-Regulierung zu schaffen. Es handelt sich um rechtsextremistische Webseiten aus den USA, denen der Verfassungsschutz aber keine bzw. nur eine geringe Bedeutung zuweist. Somit ist die vorgebliche Intention der Bezirksregierung sehr zweifelhaft.

Siehe: Wieviel und was soll gesperrt werden?

Regierungsvizepräsident Jürgen Riesenbeck erläuterte die Taktik der Behörde mit: "Wenn ich das Milchtrinken verbieten will, muss ich erst mal ein oder zwei Flaschen beschlagnahmen."

Auch Regierungsdirektor Jürgen Schütte, zuständiger Dezernatsleiter, gibt unumwunden zu: die angedachten Sperren bringen nichts: "Nutzer mit vertieften IT-Kenntnissen beziehungsweise überzeugte Rechtsextremisten werden schon Wege finden, um an die Inhalte zu gelangen."

Mehr: Sperrungen für die, die sich das sowieso nicht anschauen

Weitere Quellen

  • Umfangreiche O-Töne, aufgezeichnet bei zwei Veranstaltungen der Bezirksregierung
  • Eine umfangreiche Materialsammlung zum Thema, in der neben der Kritiker auch die Bezirksregierung Düsseldorf zu Wort kommt, hat die Internet-Initiative DAVID (ein Zusammenschluss diverser Vereine und Initiativen) zusammengestellt.
  • Die Sperrungsverfügungen der Bezirksregierung Düsseldorf standen von Anfang an unter der Kritik der Internet-Öffentlichkeit. Auch wenn Regierungspräsident Jürgen Büssow (SPD) die Kritiker gerne in die rechtsextreme Ecke zu stellen versucht kamen diese vornehmlich aus der Mitte der Gesellschaft. So bezeichnete der Bundestagsabgeordnete und medienpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Büssows Vorgehen als "Schaumschlägerei" und "in politischer Perspektive fehlgeleitet und in rechtlicher Hinsicht unhaltbar." Siehe auch: Tauss-Pressemeldung
  • In einem Rechtsgutachten der Sperrverfügungen lässt Prof. Dr. Christoph Engel kein gutes Haar an den Düsseldorfer Vorhaben
  • In einem offenen Brief kritisieren diverse Organisationen und Initiativen, darunter der Virtuelle Ortsverband der SPD, die Grüne Jugend u.a., die Verleihung eines Anti-Rassismus-Preises an Jürgen Büssow.

Bezirksregierung vs. ODEM.org/Alvar Freude

Laut dem Informationsfreiheitsgesetzt Nordrhein-Westfalen sind Behörden verpflichtet, vorhandene Informationen auf Antrag herauszugeben. Entsprechende Anträge von ODEM.org wurden von der Bezirksregierung entweder mit haarsträubenden Begründungen abgelehnt oder, wenn es nicht mehr anders ging, mit überzogenen und unbegründeten Gebührenrechnungen belegt. Auch die massive Intervention der Landesbeauftragten für Information scheint die Bezirksregierung nicht zu stören: Bis heute hält die Behörde rechtswidrig Dokumente zurück.

Details: Verhinderung der Öffentlichkeit

Dieser Kleinkrieg der Düsseldorfer Behörde dürfte in der Strafanzeige gegen Alvar Freude ihren vorläufigen Höhepunkt finden. Kam die Bezirksregierung vielleicht durch die Überschrift "Knast für Kritiker?" bei obigem Artikel auf dumme Gedanken?

Die Strafanzeigen

Bereits im April 2002 erstattete der Geschäftsführer eines Düsseldorfer IT-Dienstleistungsunternehmens Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen Alvar Freude als Verantwortlichen bei ODEM sowie gegen den Provider (ohne diesen zu benennen). Tatvorwurf: Verbreitung volksverhetzender Inhalte und Umgehung der Sperrverfügungen der Bezirksregierung Düsseldorf mittels "Redirect Links". Dass letzteres technisch schlicht falsch ist (eine vorhandene Sperre würde damit keinesfalls umgangen), muss ihm als Programmierer bekannt sein.

Im Diskussions-Forum des Heise-Newstickers diffamierte er unter Pseudonym Alvar Freude als Nazi bzw. und Nazi-Sypathisant.

Das Landeskriminalamt ermittelte fast eineinhalb Jahre und füllte einen Ordner mit Ausdrucken von Webseiten, die nichts mit ODEM.org oder Alvar Freude zu tun hatten. Eine vom LKA beantragte Hausdurchsuchung wurde von der Staatsanwaltschaft abgelehnt.

Interessanterweise ist der Anzeigenerstatter Stammuser eines anderen Internet-Projekts von Alvar Freude: Dem interaktiven Textnetzwerk Assoziations-Blaster, einer bekannten Netzliteratur-Arbeit. Dort ist er freundlich und kooperativ, hat eine Erweiterung programmiert und bat sogar um den Quellcode des Programmes, um dieses weiterzuentwickeln. Die Motivation für die Strafanzeige ist also nur schwer verständlich. Ob seine Firma in geschäftlicher Beziehung mit der Bezirksregierung steht ist nicht bekannt, die Website der Firma schweigt sich über ihre Kunden aus.

Im Juni 2003 stellte schließlich auch eine Mitarbeiterin der Bezirksregierung auf offiziellem Briefpapier der Behörde die zweite Strafanzeige. Diesmal wegen der Satire auf die Sperrungsverfügung. Die Mitarbeiterin arbeitet in der Abteilung, in der die Sperrungsverfügungen bearbeitet werden. Die Satire ist der Bezirksregierung seit Dezember 2001 bekannt.

Bisher hat niemand angerufen und sich extremistische Inhalte vorlesen lassen. Eine Verbreitung ist also schon von daher ausgeschlossen.

Juristsiche Stellungnahme

Die Stellungnahme von RA Thomas Stadler beinhaltet eine ausführliche Würdigung der Strafanzeigen und der Ermittlungsarbeit von LKA und Staatsanwaltschaft.

Über Jürgen Büssow

Mehr Infos zum SPD-Politiker und Regierungspräsident von Düsseldorf finden sich in seinem Lebenslauf. Interessant ist auch sein Umgang mit der Presse.

Über ODEM

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Mehr Infos in der Tour und den "Lektionen in NetArt".

Über Alvar C.H. Freude

Alvar C.H. Freude, verheiratet, Jahrgang 1972, ist Diplom-Kommunikations-Designer (FH) und lebt in Stuttgart. Er arbeitet als freiberuflicher Internet-Entwickler, Berater, Programmierer und tritt gelegentlich als Medienkünstler in Erscheinung. Seit 1999 engagiert er sich für Informations- und Kommunikationsrechte, zuletzt im Rahmen des UNO-Weltgipfels zur Informationsgesellschaft (WSIS), und hält verschiedene Vorträge zu Themen rund um Netzkultur. Mehr Infos auf seiner Homepage.

2001 wurde er für seine Diplomarbeit "insert_coin - Verborgene Mechanismen und Machtstrukturen im freisten Medium von allen" mit dem "\\internationalen\medien\kunst\preis" vom Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe (ZKM) und Südwestrundfunk (SWR) ausgezeichnet. Details dazu in der ODEM-Tour.



 

 

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