Bezirksregierung Düsseldorf stellt Strafanzeige, Staatsanwalt droht:
Berufsverbot für Satire
Chinesische Verhältnisse in Deutschland?
Stand: 27. Oktober 2003
Siehe auch: Zusammenfassung aller/aktueller Materialien zum Thema
Unglaublich, aber wahr: Eine satirische Aufarbeitung der Bestrebungen der Behörden in Nordrhein-Westfalen, ausländische Internet-Inhalte in Deutschland zu sperren, soll ODEM-Gründer Alvar Freude zum Verhängnis werden: Die Staatsanwaltschaft Stuttgart ermittelt und droht in einem Schreiben an Freudes Anwalt mit Freiheitsstrafe und Berufsverbot.
»Ich erlaube mir bereits jetzt darauf hinzuweisen, dass angesichts der Massierung der strafbaren Seiten aus verschiedenen Bereichen über die angestrebte, hier übliche Freiheitsstrafe hinaus die Beantragung der Einziehung der Tatmittel sowie ein Berufsverbot im Raume stehen.«
Aus einem Brief von Staatsanwalt M. von der Staatsanwaltschaft Stuttgart
Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gehen zurück auf zwei Strafanzeigen, in denen unwahre Behauptungen aufgestellt werden:
Strafanzeige der Düsseldorfer Bezirksregierung
»Gewaltdarstellung im Internet« wirft die Staatsanwaltschaft ODEM vor, da wir mit FreedomFone anbieten, beliebige Internet-Inhalte am Telefon vorzulesen. Das 2001 entstandene Projekt ist eine Satire auf die geplanten Filter-Maßnahmen der Düsseldorfer Bezirksregierung, die nun Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart gestellt hat. Begründung: Der Dienst sei dazu da, Zugang zu illegalen Inhalten zu vermitteln. In einer Stellungnahme schreibt unser Anwalt Thomas Stadler: »Das Angebot, man würde den Nutzern weggefilterte Internetinhalte dann eben am Telefon vorlesen, ist derart absurd, dass einem durchschnittlich aufmerksamen Internetnutzer die Satire förmlich ins Gesicht springt.«
Die Strafanzeige der Bezirksregierung wurde im Juni 2003 von einer Mitarbeiterin von Regierungsdirektor Jürgen Schütte, er ist der zuständige Abteilungsleiter für die Sperrverfügungen, gestellt (siehe auch: Mario Sixtus berichtet in der DE:BUG, wie Jürgen Schütte uns verleumdete). Unser Satire-Projekt, das bis zum Herbst unter anderem Namen lief und wegen Namensgleichheit mit einem Verein umbenannt wurde, ist der Bezirksregierung bereits seit Dezember 2001 bekannt.
Auch unsere Dokumentation der Sperrungsverfügungen (Link zur aktuellen Version!) der Bezirksregierung Düsseldorf ist Stein des Anstoßes: Der Geschäftsführer einer Düsseldorfer IT-Beratungs- und -Dienstleistungsfirma erstattete Anzeige und behauptet, wir würden die Sperrverfügungen technisch mittels Redirect-Links umgehen und volksverhetzende Inhalte verbreiten. Dies ist offensichtlich falsch, und der Versuch uns in die rechtsextreme Ecke zu drängen ist eine Unverschämtheit. Es ist verwunderlich, dass die Staatsanwaltschaft und das Landeskriminalamt dies nach eineinhalbjähriger Ermittlungsarbeit nicht selbst herausgefunden haben: Bei einem Link mit Umleitung wie hier kommt nur etwas auf den Browser, wenn die Webseite auf die umgeleitet wird auch erreichbar ist. Eine nicht erreichbare Website bleibt auch weiterhin nicht erreichbar. Es handelt sich im Ergebnis also um ganz gewöhnliche Links. Wo der Zugriff gesperrt gesperrt ist, bleibt er gesperrt.
Bleibt der Vorwurf, die in der Dokumentation enthaltene Nennung der Seiten, die die Bezirksregierung sperren lassen möchte, sei strafbar. Abgesehen davon, dass eine Nennung oder ein Link neutral sind und nicht bedeuten, dass der Linkende die betreffenden Inhalte publiziert, gehören die Adressen der zu sperrenden Webseiten zu einer Dokumentation selbstverständlich dazu. Das sieht der Gesetzgeber auch genauso: Anwalt Thomas Stadler erklärt: "Nach der gesetzlichen Regelung ist der Tatbestand der Volksverhetzung nicht erfüllt, wenn die Handlung der staatsbürgerlichen Aufklärung oder der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens dient. Dies ist bei ODEM.org eindeutig der Fall." (vgl. §86 Strafgesetzbuch, Absatz 3)
Sprich: selbst wenn man der Ansicht ist, dass Verweise (Links) ein »Zugänglichmachen« oder »Verbreiten« von Inhalten bedeute, so ist in diesem Falle eine Strafbarkeit nicht gegeben.
Zusammenfassung der Ereignisse
Insgesamt gab es also zwei Strafanzeigen, eine vom März 2002, eine vom Juni 2003. Zu der ersten ermittelte das Landeskriminalamt Baden-Württemberg bis zum Juli 2003, also fast eineinhalb Jahre. Die zweite Strafanzeige leitete die Staatsanwaltschaft an die Polizeidirektion Stuttgart weiter, dort ermittelte die Abteilung Staatsschutz. Auf die Einladung zu einer Vernehmung antwortete Anwalt Stadler und bat zuerst um Akteneinsicht (die nur einem Anwalt gewährt werden kann), die Verfahren wurden daraufhin zusammengelegt. Im Anschreiben zur Akteneinsicht ließ sich der Staatsanwalt zu dem oben zitierten Einschüchterungsversuch mit Berufsverbot hinreißen.
In der nahezu eineinhalbjährigen Ermittlungsarbeit des LKA kam ein dicker Ordner an Unterlagen zusammen, im Wesentlichen Ausdrucke von Webseiten und zwar solche, die über mehrere Schritte von der ODEM-Website aus erreichbar waren. Bekanntermaßen lässt sich über mehrere Schritte das halbe Web erreichen ...
Der Staatsanwalt, der die Ermittlungen leitet, ist in Bezug auf Internet-Themen schon einmal durch angeblich seltsame Methoden aufgefallen.
Mehr zur Strafanzeige #1
Der Anzeigenerstatter der ersten Strafanzeige, Geschäftsführer eines IT-Beratungs-Unternehmens in Düsseldorf, ist auch Nutzer eines anderen Internet-Projektes von Dragan Espenschied und Alvar Freude: des Assoziations-Blasters. Dort gibt er sich freundlich und kooperativ, hat sogar eine Erweiterung programmiert und im Januar 2003 zur Weiterentwicklung um den Sourcecode gebeten. Die Strafanzeige stellte er fast ein Jahr zuvor. Diverse gehässige Kommentare, Beleidigungen und falsche Unterstellungen im Heise-Forum passen da auf den ersten Blick nicht so recht ins Bild.
Ähnlicher Fall bereits 2000
Bereits 2000 ermittelte die Berliner Staatsanwaltschaft in einem ähnlichen Fall gegen den Journalisten Burkhard Schröder. Auch ihm wurden Links zu ausländischen Webseiten, die in Deutschland nicht publiziert werden dürften, vorgeworfen: Er verweist in seinem »Informationsportal Rechtsextremismus & Antisemitismus« auch auf rechtsradikale Internet-Seiten. Nach einer Untersuchung stellte die Staatsanwaltschaft Berlin das Verfahren 2001 ein: eine strafbare Handlung konnte nicht festgestellt werden. Ein Berufsverbot wurde Schröder damals aber nicht in Aussicht gestellt.
Hintergrundinformationen
Die Sperrungsverfügungen der Bezirksregierung Düsseldorf
Die Bezirksregierung Düsseldorf ist nach dem Mediendienstestaatsvertrag in Nordrhein-Westfalen für die Medienaufsicht zuständig. Sie möchte ihre Kontrolle auch auf ausländische Internet-Inhalte ausweiten: Die Behörde und allen voran Regierungspräsident Jürgen Büssow planen, tausende ausländische Internet-Seiten zu "sperren" bzw. in Deutschland auszublenden. Die Seiten bleiben weiterhin im Netz, nur soll es Internet-Nutzern unmöglich gemacht werden, sich diese anzuschauen. Es handelt sich also nicht um eine Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern um die Einschränkung der Informations- bzw. Rezipientenfreiheit - also dem Recht, sich aus allen öffentlichen Quellen ungehindert unterrichten zu dürfen.
Dieses Vorhaben ist technisch, juristisch und gesellschaftspolitisch sehr umstritten. Eine umfassende Diskussion fand in der Öffentlichkeit, abseits der Internet-Szene, bisher nicht statt.
Dabei sind die ersten beiden zu sperrenden Webseiten - wie die Bezirksregierung selbst sagt - nur ein Versuchsballon, um die politischen, rechtlichen und technischen Grundlagen für eine weitergehende Internet-Regulierung zu schaffen. Es handelt sich um rechtsextremistische Webseiten aus den USA, denen der Verfassungsschutz aber keine bzw. nur eine geringe Bedeutung zuweist. Somit ist die vorgebliche Intention der Bezirksregierung sehr zweifelhaft.
Siehe: Wieviel und was soll gesperrt werden?
Regierungsvizepräsident Jürgen Riesenbeck erläuterte die Taktik der Behörde mit: "Wenn ich das Milchtrinken verbieten will, muss ich erst mal ein oder zwei Flaschen beschlagnahmen."
Auch Regierungsdirektor Jürgen Schütte, zuständiger Dezernatsleiter, gibt unumwunden zu: die angedachten Sperren bringen nichts: "Nutzer mit vertieften IT-Kenntnissen beziehungsweise überzeugte Rechtsextremisten werden schon Wege finden, um an die Inhalte zu gelangen."
Mehr: Sperrungen für die, die sich das sowieso nicht anschauen
Weitere Quellen
- Umfangreiche O-Töne, aufgezeichnet bei zwei Veranstaltungen der Bezirksregierung
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Eine umfangreiche Materialsammlung zum Thema, in der neben der Kritiker auch die Bezirksregierung Düsseldorf zu Wort kommt, hat die Internet-Initiative DAVID (ein Zusammenschluss diverser Vereine und Initiativen) zusammengestellt.
- Die Sperrungsverfügungen der Bezirksregierung Düsseldorf standen von Anfang an unter der Kritik der Internet-Öffentlichkeit. Auch wenn Regierungspräsident Jürgen Büssow (SPD) die Kritiker gerne in die rechtsextreme Ecke zu stellen versucht kamen diese vornehmlich aus der Mitte der Gesellschaft. So bezeichnete der Bundestagsabgeordnete und medienpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Büssows Vorgehen als "Schaumschlägerei" und "in politischer Perspektive fehlgeleitet und in rechtlicher Hinsicht unhaltbar."
Siehe auch: Tauss-Pressemeldung
- In einem Rechtsgutachten zu den Sperrverfügungen lässt Prof. Dr. Christoph Engel kein gutes Haar an den Düsseldorfer Vorhaben
- In einem offenen Brief kritisieren diverse Organisationen und Initiativen, darunter der Virtuelle Ortsverband der SPD, die Grüne Jugend u.a., die Verleihung eines Anti-Rassismus-Preises an Jürgen Büssow.
Bezirksregierung vs. ODEM.org/Alvar Freude
Laut dem Informationsfreiheitsgesetzt Nordrhein-Westfalen sind Behörden verpflichtet, vorhandene Informationen auf Antrag herauszugeben. Entsprechende Anträge von ODEM.org wurden von der Bezirksregierung entweder mit haarsträubenden Begründungen abgelehnt oder, wenn es nicht mehr anders ging, mit überzogenen und unbegründeten Gebührenrechnungen belegt. Auch die massive Intervention der Landesbeauftragten für Information scheint die Bezirksregierung nicht zu stören: Bis heute hält die Behörde rechtswidrig Dokumente zurück.
Details: Verhinderung der Öffentlichkeit
Dieser Kleinkrieg der Düsseldorfer Behörde dürfte in der Strafanzeige gegen Alvar Freude ihren vorläufigen Höhepunkt finden. Kam die Bezirksregierung vielleicht durch die Überschrift "Knast für Kritiker?" bei obigem Artikel auf dumme Gedanken?
Die Strafanzeigen
Bereits im April 2002 erstattete der Geschäftsführer eines Düsseldorfer IT-Dienstleistungsunternehmens Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen Alvar Freude als Verantwortlichen bei ODEM sowie gegen den Provider (ohne diesen zu benennen). Tatvorwurf: Verbreitung volksverhetzender Inhalte und Umgehung der Sperrverfügungen der Bezirksregierung Düsseldorf mittels "Redirect Links". Dass letzteres technisch schlicht falsch ist (eine vorhandene Sperre würde damit keinesfalls umgangen), muss ihm als Programmierer bekannt sein.
Im Diskussions-Forum des Heise-Newstickers diffamierte er unter Pseudonym
Alvar Freude als Nazi bzw. und Nazi-Sympathisant.
Das Landeskriminalamt ermittelte fast eineinhalb Jahre und füllte einen Ordner mit Ausdrucken von Webseiten, die nichts mit ODEM.org oder Alvar Freude zu tun hatten. Eine vom LKA beantragte Hausdurchsuchung wurde von der Staatsanwaltschaft abgelehnt.
Interessanterweise ist der Anzeigenerstatter Stammuser eines anderen Internet-Projekts von Alvar Freude: Dem interaktiven Textnetzwerk Assoziations-Blaster, einer bekannten Netzliteratur-Arbeit. Dort ist er freundlich und kooperativ, hat eine Erweiterung programmiert und bat sogar um den Quellcode des Programmes, um dieses weiterzuentwickeln. Die Motivation für die Strafanzeige ist also nur schwer verständlich. Ob seine Firma in geschäftlicher Beziehung mit der Bezirksregierung steht ist nicht bekannt, die Website der Firma schweigt sich über ihre Kunden aus.
Im Juni 2003 stellte schließlich auch eine Mitarbeiterin der Bezirksregierung auf offiziellem Briefpapier der Behörde die zweite Strafanzeige. Diesmal wegen der Satire auf die Sperrungsverfügung. Die Mitarbeiterin arbeitet in der Abteilung, in der die Sperrungsverfügungen bearbeitet werden. Die Satire ist der Bezirksregierung seit Dezember 2001 bekannt.
Bisher hat niemand angerufen und sich extremistische Inhalte vorlesen lassen. Eine Verbreitung ist also schon von daher ausgeschlossen.
Juristische Stellungnahme
Die Stellungnahme von RA Thomas Stadler beinhaltet eine ausführliche Würdigung der Strafanzeigen und der Ermittlungsarbeit von LKA und Staatsanwaltschaft.
Über Jürgen Büssow
Mehr Infos zum SPD-Politiker und Regierungspräsidenten von Düsseldorf finden sich in seinem Lebenslauf.
Interessant ist auch sein Umgang mit der Presse.
Über ODEM und Co.
Mehr in der Tour, den "Lektionen in NetArt" sowie in einem Telepolis-Artikel.
Infos zu Alvar C.H. Freude finden sich auf seiner Homepage.
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